Erkenntniskäse mit Quatschsoße
aus
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"Matrix Reloaded": Warum Keanu Reeves leider doch nicht der Kardinal
Ratzinger des Action-Kinos ist
von Holger Kreitling
Die Sonnenbrillen!
Wer "Matrix Reloaded" wohl gesonnen bleiben möchte, der konzentriere sich
vor allem auf die Sonnenbrillen.
Und nun zum Rest. In "Matrix" gab es am Anfang ein großartiges Action-Bild:
Trinity (Carrie-Anne Moss) flog nach einer Hetzjagd über die Dächer durch ein
Fenster, die Treppe herunter, landete - deutlich inspiriert von John Woo -
auf dem Rücken. Schnitt. Mit zwei hochgerissenen Pistolen schaute die Frau auf
das Fenster, ob da ein Feind käme. Keine Bewegung mehr. Ein stilles Bild.
Ausatmen.
"Matrix Reloaded" benutzt die gleiche Haltung der Figur für die
Eröffnungs-Sequenz. Nur viel schneller, atemloser. Trinity stürzt aus einem Hochhaus und
liefert sich eine wüste Schießerei mit einem Agenten, die Kamera kreist in
der seit "Matrix" tradierten Form um die fallenden Akteure und die Kugeln
herum, Glas fliegt, das Bild stürzt, eine einzige Bewegungs-Maschinerie, ungeheuer
beeindruckend. Dann wacht Neo auf, er hat das Bild nur geträumt. Und der
Zuschauer? Déjà-vu!
Hier muss noch eine Erinnerung an "Matrix" folgen: Dort heißt es, Déjà-vus
seien Fehler in der Matrix, ein Zeichen, dass etwas geändert worden sei. Man
kommt also beim Beschreiben von "Matrix Reloaded" öfter ins interpretatorische
Stolpern, was wir flugs für einen Film-Fehler erklären wollen.
Vier Jahre hatten die Brüder Larry und Andy Wachowski Zeit, um eine
Fortsetzung zu drehen, und offensichtlich haben sie einen Großteil davon mit den
Spezialeffekten verbracht, statt am Drehbuch zu arbeiten. "Matrix" bestach durch
das organische Miteinander von Action, Religion, Gnostik, Platons
Höhlengleichnis und wirklich erstklassigen Sonnenbrillen. "Reloaded" stellt die Teile
nebeneinander und tönt zweifach laut. Und länger.
Der Film kostet erneut den Simulations-Reiz der von einem Computer
vorgegaukelten Welt aus, aber verblüffend und aufregend wirkt das nicht mehr. Die
Action-Szenen und Kung-Fu-Kämpfe sind potenziert, Weltenretter Neo (Keanu Reeves)
nimmt es locker mit Dutzenden Agenten-Klonen auf. Obendrein fliegt Neo wie
Superman durch die Lüfte, zum eklektischen Fundus der Matrix-Welt gesellt sich
also auch der Stählerne.
Neo ist ein eingebildeter Held mit eklatanten Schauspiel-Schwächen. Wo
Trinitys Coolness gut funktioniert, starrt sich Keanu Reeves durch den Film, als
wolle er Charlton Heston an Ausdrucksfähigkeit unterbieten. Die Kämpfe
beginnen immer dann, wenn Reeves ratlos in die Kamera schaut - und es gibt viele
ratlose Blicke zu bestaunen. Sein Priester-Kampf-Ornat wirkt unfreiwillig
komisch - zum Kardinal Ratzinger des Action-Kinos fehlt es Reeves entscheidend an
Geist. Nur Morpheus wahrt die nötige gravitäische Ruhe. Dafür sollte Laurence
Fishburne in Zukunft nicht mehr als nötig kämpfen, die in der Matrix gegebene
Leichtigkeit fällt ihm sichtlich schwer.
Zweifellos sind die Action-Szenen brillant inszeniert. Eine viertelstündige
Verfolgungsfahrt wird zum Wagenrennen-Standard auf der nach oben offenen
Ben-Hur-Skala. Und es gibt anrührende Figuren wie den altmodischen
Schlüsselmacher. Selbst der französisch fluchende Merowinger (Lambert Wilson) in seinem
Restaurant ist interessant, wenn er buchstäblich den Weg eines aphrodisierendes
Dessert im Körper einer aus Nullen und Einsen bestehenden Dame zeigt. Seine
Frau Persephone (Monica Bellucci) mit ihrem zwei Minuten langen Auftritt stört
dagegen nur als Stafette.
Das richtig Schlimme an "Reloaded" ist die halbe Stunde, die in Zion spielt,
der Stadt in der Erde. Den Wachowski-Brüder ist nicht mehr eingefallen als
eine Vision aus der Science-fiction-Grabbelkiste, mit Fritz-Langscher Mechanik
und der organischen Schrott-Ästhetik H. R. Gigers. Während sich die Wächter
der Matrix auf die Stadt zugraben, feiern die Menschen recht unmotiviert eine
Full Moon Party für Höhlen-Hippies. Man fragt sich als Zuschauer, ob es
nicht ganz rechtens wäre, dem Zion-Spuk ein Ende zu bereiten.
Was für die Action gilt - eine Hatz nach Mehrwert - setzt sich im
philosophischen Überbau fort. Die Erkenntnistheorie wird weiter gesponnen, als gelte
es, den ersten Teil zu übertreffen, ein sportliches Unterfangen, dass über den
Philosophie-Begriff Hollywoods einiges aussagt. Man legt nicht ungestraft
Hand an ein funktionierendes Gerüst. "Reloaded" fügt Nietzsches ewige Wiederkehr
hinzu, zielt aber im Wesentlichen auf die Systemtheorie und den Radikalen
Konstruktivismus ab.
Das System der Matrix, so der Stand am Ende von "Reloaded", umfasst
jedenfalls jetzt alles, auch den Feind, die Stadt Zion und den Auserwählten, der das
Programm durch sein Handeln immer wieder neu startet. Jede Operation
reproduziert die Einheit des Systems. Deshalb - des Rätsels Lösung - konnte das
Orakel auch behaupten, Neo sei nicht der Auserwählte. Alles feinsinniger
Solipsismus. Neo muss sich in der finalen Seminaristendebatte vom "Architekten" mit
weißem Bart viel über Kontingenz und Kausalität und Anomalien anhören, über
Entscheidungen, die so oder so getroffen werden, den Lauf der Dinge aber nicht
aufhalten, sondern nur umprogrammieren. Die Wachowskis schließen sich also -
vorerst - der pessimistischen Analyse von der Unveränderbarkeit des
Gesellschaft an. Wozu das offene Ende passt, das nur einen Stopp in der Handlung
markiert. Im dritten Teil, "Matrix Revolutions", der im November über uns kommt,
wird garantiert das gute alte Christentum über allen Konstruktivismus
triumphieren.
Ist der Architekt ein ironischer Luhmann-Klon oder der böse Demiurg der
Gnosis? Egal. Denn die Gespräche erscheinen zwischen all dem Hauen und Schießen
und bedeutsam Gucken nicht wie philosophisch aufregende Ruhepausen, sondern
mehr wie hastig aufgesagter Erkenntniskäse mit Quatschsoße. Oder, um es mit
Luhmanns Reduktion der Komplexität zu sagen: Viel Lärm um das Nichts.
Das Schlüssel-Zitat von "Matrix", das 1999 den interpretatorischen Ruhm des
Films begründete, lautete: "Willkommen in der Wüste des Realen." Ein spätes
Baudrillard-Zitat. Ein Jahrhundert-Ausklangs-Satz. Irgendwie sieht "Matrix
Reloaded" aus, als hätte Neo besser die blaue Pille geschluckt statt der roten.
Der Architekt erklärt: "Die erste Matrix, die ich geschaffen habe, war
perfekt. Ein Kunstwerk." So viel Erkenntnis tut gut.
Willkommen in der Wüste des realen Kinos.
Artikel erschienen am 22. Mai 2003